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Neue Planungsmethode – Gebäudetyp E
Zur Erreichung des politisch gewollten bezahlbaren Bauens und Wohnens wurde immer wieder die Möglichkeit der Abweichung von den in Deutschland hohen Baustandards diskutiert, die durch die fortschreitende Normierung und Regulierung das Bauen zusätzlich verteuert. Die Bundesingenieurkammer unterstützte dabei zusammen mit der Bundesarchitektenkammer eine unter dem Arbeitstitel „Gebäudetyp E“ von der Bayerischen Architektenkammer gestarteten Initiative, der sich auch die Ingenieurekammer-Bau angeschlossen hatte, welche eine vereinfachte Abweichung von bauaufsichtlich eingeführten Technischen Baubestimmungen und allgemein anerkannten Regeln der Technik (aRdT) zum Ziel hat. Dies soll sowohl für Abweichungen von bauordnungsrechtlichen Anforderungen der Landesbauordnungen als auch für bauvertragliche Abweichungen von üblicherweise geschuldeten Leistungen möglich sein. Mit dem „Gebäudetyp E“ ist kein klassifizierter Gebäudetyp gemeint, sondern damit wird allgemein ein Prozess beschrieben, in dem Planerinnen und Planer mit der Bauherrschaft eine Gebäudequalität und einen Komfortstandard abweichend von Normen individuell festlegen können, ohne dabei jedoch die bautechnische Sicherheit (Statik, Brandschutz) zu vernachlässigen.
Art. 63 Abweichungen Bayerische Bauordnung
(1) Die Bauaufsichtsbehörde soll Abweichungen von Anforderungen dieses Gesetzes und auf Grund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarschaftlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Absatz 1 vereinbar sind. Dies gilt insbesondere für Vorhaben, die der Weiternutzung bestehender Gebäude dienen,
1. Vorhaben, die der Weiternutzung bestehender Gebäude dienen,
2. Abweichungen von den Anforderungen des Art 6, wenn ein rechtmäßig errichtetes Gebäude durch ein Gebäude höchstens gleicher Abmessung und Gestalt ersetzt wird,
3. Vorhaben zur Energieeinsparung und Nutzung erneuerbarer Energien,
4. Vorhaben zur Erprobung neuer Bau-und Wohnformen.
Der Zulassung einer Abweichung bedarf es nicht, wenn bautechnische Nachweise durch einen Prüfsachverständigen bescheinigt werden oder in den Fällen des Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 das Vorliegen der Voraussetzung für einen Abweichung durch ihn bescheinigt wird. Art. 81a Abs. 1 Satz 2 bleibt unberührt.
Normen und Richtlinien, die zu den aRdT zählen, sollen je nach Planungssituation und in Abstimmung mit der fachkundigen Bauherrschaft in Teilen außen vorgelassen werden können. Die Bezeichnung in Art. 63 Abs. 1 Bayerische Bauordnung, dass die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen zulassen „soll“ bedeutet im Umkehrschluss, dass nur unter bestimmten Voraussetzungen eine Ablehnung möglich ist.
Durch die Änderungen wird dem Bedürfnis Rechnung getragen, in geeigneten Fällen aus dem engen Korsett an Normen auszubrechen, die für die Bauwerkssicherheit nicht zwingend erforderlich sind und die Einhaltung des Vier-Augen-Prinzips sichergestellt ist.
Bayern hat zwischenzeitlich 19 Pilotprojekte ausgewählt. Darunter sind 15 Wohnbauten, drei kommunale Schulbauten und ein Verwaltungsgebäude. Bei diesen wurde bewusst von Vorschriften, Normen und aRdT abgewichen (z. B. bei der Haustechnik oder dem Stellplatzschlüssel, soweit diese nicht sicherheitsrelevant waren).
Die vertragsrechtliche Seite birgt das weitaus größere Problem, dass mit jedem Vertragsschluss automatisch eine Ausführung nach den anerkannten Regeln der Technik (aRdT) geschuldet ist.
Im BGB sind die aRdT nicht explizit im Rahmen der Sach- und Rechtsmängelvorschriften erwähnt, jedoch findet sich z. B. in § 13 der VOB/B dass „der Auftragnehmer dem Auftraggeber seine Leistung zum Zeitpunkt der Abnahme frei von Sachmängeln zu verschaffen hat“. Die Leistung ist zur Zeit der Abnahme frei von Sachmängeln, wenn sie die vereinbarte Beschaffenheit hat und den anerkannten Regeln der Technik entspricht. “. Die Rechtsprechung geht aber davon aus, dass bei einer Beschaffenheitsvereinbarung eine technisch einwandfreie Herstellung des Werkes (und damit die Beachtung der aRdT) als stillschweigende Verpflichtung gilt, sofern nicht etwas anderes vereinbart wurde, so dass die Einhaltung der aRdT auch in BGB Verträgen Geltung finden.
Ein Abweichen von den aRdT ist zwar grundsätzlich möglich, jedoch nur mit aufwendigen rechtlich komplexen Vereinbarungen und Aufklärungen, wie das nachfolgende Beispiel.zeigt. Ein Architekt hatte mit Wissen des Auftraggebers eine Abweichung von den anerkannten Regeln der Technik hinsichtlich der Bewehrungspläne vorgeschlagen, die so ausgeführt wurde. Im Nachhinein kam es zu Rissen. Nach Ansicht des Gerichtes war dem Auftraggeber diese Abweichung zwar durch die Information des Architekten bewusst, jedoch habe der Architekt – der als Fachmann mit dieser Planung beauftragt war – nicht klar und deutlich auf die Risiken und Folgen hingewiesen, so dass eine sorgfältige Abwägung für den Auftraggeber nicht möglich gewesen sei. Im Ergebnis musste der Architekt haften.(OLG München, Urteil vom 14.04.2010 27 U 31/09; BGH, Beschluss vom 14.06.2012-VII ZR 75/10).
Die Prüfung- und Hinweispflicht findet zum Teil auch Berücksichtigung im Rahmen der Versicherungsbedingungen der Architekten und Ingenieure. In der Praxis entstehen immer mal wieder Situationen, in denen z. B. bei historischen Gebäuden oder auch anderen Baumaßnahmen eine Einhaltung des aktuellen Stands der Technik nicht realisierbar ist oder der Bauherr trotz Bedenken des Auftragnehmers auf einen bestimmten Baustoff oder Ausführung besteht. Einige Versicherer haben diese Umstände berücksichtigt und z. B. eine Einschränkung der Pflichtwidrigkeitsklausel bei historischen Gebäuden vorgesehen bzw. z. T. insgesamt auf Baumaßnahmen ausgedehnt, durch diese die oben angesprochenen Sachverhalte unter bestimmten Voraussetzungen nicht automatisch zum Verlust des Versicherungsschutzes führen.
Abweichungen sind dennoch mit Risiken verbunden. Kommt der Architekt/Ingenieur seinen Hinweis- und Aufklärungspflichten nicht ausreichend nach, wird die Leistung als mangelhaft gewertet und er macht sich unter Umständen gegenüber seinem Auftraggeber sogar schadenersatzpflichtig. Die daraus resultierende Rechtsunsicherheit darüber, wie auch ein Gericht derartige Vereinbarungen beurteilen würde, führt dazu, dass in der Praxis von Abweichungen kaum Gebrauch gemacht wird.
Darüber hinaus kann das bewusste Abweichen oder ein Verstoß gegen Regeln und Normen wie die Abweichung von den aRdT dazu führen, dass dem Architekten/Ingenieur im Rahmen seiner Berufs-Haftpflichtversicherung pflichtwidriges Verhalten vorgehalten wird, was dazu führen kann, dass der Versicherungsschutz versagt wird. Gemäß den Musterbedingungen des Gesamtverbandes der Versicherungswirtschaft (GDV) ist vom Versicherungsschutz ausgeschlossen „Ansprüche, die durch ein bewusst gesetz-, vorschrifts- oder sonst pflichtwidriges Verhalten (Tun oder Unterlassen) verursacht werden“. Dies betrifft nicht nur bewusste Verstöße gegen Baugesetze, technische Regelwerke oder DIN Normen. Unter einem sonst pflichtwidrigen Verhalten sind die vertraglich übernommenen Pflichten zu verstehen, so dass in Einzelfällen auch eine nicht oder nur unzureichend erfüllte Beratungs- oder Aufklärungspflichtausreichend sein kann. Einzelne Versicherer bieten diesen Ausschlusstatbestand in modifizierter Form an. Hiernach soll der Ausschluss nicht greifen, wenn der Verstoß keine Nachteile für den Geschädigten zur Folge hat oder von dem Geschädigten genehmigt wurde. Die Beweislast hierfür trägt jedoch der Versicherte.
Bei einem mangelhaften Werk kann der Auftraggeber außerdem Gewährleistungsansprüche geltend machen. Erfüllungs-, Nachbesserungs- bzw. Mängelbeseitigungsansprüche (z. B. Nachbesserung der mangelhaften Pläne), die aus einer mangelhaften Leistung des Architekten/Ingenieurs resultieren, werden jedoch ebenfalls nicht von der Berufs-Haftpflichtversicherung umfasst (Hinweis: Ist ein Objektschaden durch den Planungsfehler bereits entstanden und werden hieraus Schadenersatz verlangt, besteht für den Schadenersatzanspruch i.d.R. Versicherungsschutz).
Neben der Änderung der Bauordnung sind daher weitere Änderungen im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) notwendig, um Klarheit zu schaffen, dass ein bauordnungsrechtlich mangelfreies Bauvorhaben, auch mangelfrei im Sinne des BGB ist. Hierfür hat die BIngK zusammen mit der BAK in einem Gespräch mit Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann für die bauvertragsrechtliche Flankierung des „Gebäudetyp E“ geworben. In einer vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) eingesetzten Arbeitsgruppe wurden die zivilrechtlichen Möglichkeiten dazu erörtert, die aktuell in einem Gesetzentwurf zu einem Gebäudetyp-E-Gesetz mündeten.
Dazu hat das BMJ einen Gesetzentwurf erarbeitet, der im Juli 2024 offiziell in die Verbändeanhörung gegeben wurde. Die Ressortabstimmung dazu ist noch nicht abgeschlossen.
Ziel des Gesetzentwurfes ist es, einfaches und innovatives Bauen in Deutschland zu erleichtern. Mit dem Gesetz soll es einfacher werden, beim Neubau auf die Einhaltung von Standards zu verzichten, die für die Wohnsicherheit nicht notwendig sind. Insbesondere der Neubau von Wohnungen soll dadurch bezahlbarer werden. Gleiches gilt für den Um- und Ausbau sowie die Instandsetzung von Bestandsbauwerken.
Das Gebäudetyp-E-Gesetz sieht im Wesentlichen drei Änderungen des Bauvertragsrechts vor:
in einem neuen § 650a Abs. 3 BGB soll der Begriff der„anerkannten Regeln der Technik“ konkreter gefasst werden. § 650a Abs. 3 BGB-E soll eine Vermutung einführen, dass nur sicherheitsrelevante technische Normen aRdT enthalten. Es soll erreicht werden, dass reine Komfort-Standards im Allgemeinen nicht als „anerkannte Regeln der Technik“ gewertet werden;
ferner soll in einem neuen § 650o in Gebäudebauverträgen zwischen fachkundigen Unternehmern die Abweichung von „anerkannten Regeln der Technik“ erleichtert werden;
schließlich soll ein Abweichen von „anerkannten Regeln der Technik“ nicht mehr automatisch ein Sachmangel sein.
Mit dem Entwurf wurden wesentliche Forderungen der planenden Berufe aufgegriffen. Durch die Vermutungsregelung, dass nur sicherheitstechnisch relevante Normen unter die aRdT fallen, nicht jedoch Komfort- und Ausstattungsstandards, sind letztere somit nur noch dann geschuldet, wenn sie ausdrücklich vereinbart sind.
Eine Abweichung von aRdT soll daneben zukünftig vereinfacht möglich sein. So soll bei Gebäudebauverträgen zwischen fachkundigen Unternehmen die Aufklärungspflicht für die Konsequenzen und Risiken des Abweichens entfallen, wenn über die Abweichung eine Beschaffenheitsvereinbarung getroffen wurde. Als fachkundige Unternehmen sind hier insbesondere Verträge zwischen Bauunternehmen und Unternehmen der Immobilienbranche gemeint, die in ihren Unternehmen über Kenntnisse über die im Baugewerbe einschlägigen anerkannten Regeln der Technik verfügen.
Wird keine Beschaffenheitsvereinbarung getroffen, stellt ein Abweichen von den aRdT nicht mehr automatisch einen Sachmangel dar. Voraussetzung hierfür ist, dass der Auftragnehmer zuvor auf die Abweichung hingewiesen hat und der Auftraggeber nicht unverzüglich widerspricht. Darüber hinaus wird vorausgesetzt, dass die dauerhafte Sicherheit und Eignung des Gebäudes oder der Außenanlage durch eine gleichwertige Ausführung gewährleistet sein muss.
Der Entwurf des BMJ wird von der Bundesingenieurkammer grundsätzlich begrüßt. Der Fokus wird dabei insbesondere auf die Einhaltung der sicherheitsrelevanten Bestimmungen gelegt. Dazu wird u. a. vorgeschlagen, die bauordnungsrechtlichen Regeln zur Sicherheit und Gefahrenabwehr eines Bauwerks sowie die sicherheitsrelevanten Inhalte der technischen Baubestimmungen (MVV-TB) als aRdT und vertraglich geschuldeten Mindeststandard abschließend festzuschreiben. Außerdem wird die Ausweitung der geplanten Abweichungsmöglichkeit, die im Referentenentwurf nur bei Gebäudebauverträgen vorgesehen ist, auf alle Bauverträge – und somit auf alle für den Ingenieurbereich relevanten Bauwerke – gefordert. Denn innovatives und kostengünstiges Planen und Bauen soll in allen Bereichen des Bauens – auch bei Gewerbe- und Industriebauten sowie im Infrastrukturbereich – ermöglicht werden.
Aus Sicht der Versicherungswirtschaft ist der Ansatz des Gesetzesentwurfes, unter fachkundigen Parteien Anforderungen an das Bauen den individuellen Bedürfnissen anzupassen und individuell zu gestalten, ebenfalls positiv zu werten. Siehe auch hierzu die Stellungnahme des Gesamtverbandes der Versicherungswirtschaft (GDV) zum Gesetzesentwurf. Klare Abgrenzungen und Konkretisierungen der Merkmale sind notwendig, um hier Rechtssicherheit für alle Parteien zu schaffen und keinen zusätzlichen einzelvertraglichen Regelungsbedarf hervorzurufen.
Autor:in
Mona Rizkallah
Syndikusrechtsanwältin, Senior Produktmanagerin/Senior Underwriter
HDI Versicherung AG, Hannover
mona.rizkallah@hdi.de
Markus Balkow
Rechtsanwalt
Stv. Geschäftsführer Bundesingenieurkammer Berlin
balkow@bingk.de