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Wenn der Standard zum Risiko wird: Neuere Rechtsprechung und Praxistipps
„Wer sicher bauen will, baut nach den Regeln.“ So lautet die verbreitete Faustregel unter Planern. Gemeint sind die allgemein anerkannten Regeln der Technik (im Folgenden auch „a.a.R.d.T“.), die bei Planung, Ausschreibung und Bauausführung als maßgeblicher Standard gelten. Doch die Realität ist komplexer und mitunter auch komplizierter: Immer häufiger stehen Architektinnen und Ingenieure vor der Herausforderung, von diesen Regeln abzuweichen – sei es aufgrund technischer Innovationen, wirtschaftlicher Zwänge oder individueller Wünsche des jeweiligen Bauherren.
Die allgemein anerkannten Regeln der Technik: Standard mit Rechtsfolgen
Grundsätzlich gilt:
„Anerkannte Regeln der Technik sind diejenigen technischen Regeln für den Entwurf und die Ausführung baulicher Anlagen, die in der technischen Wissenschaft als theoretisch richtig erkannt sind und feststehen, sowie insbesondere in dem Kreise der für die Anwendung der betreffenden Regeln maßgeblichen, nach dem neuesten Erkenntnisstand vorgebildeten Techniker durchweg bekannt und aufgrund fortdauernder praktischer Erfahrung als technisch geeignet, angemessen und notwendig anerkannt sind“.
Oder mit anderen Worten: Die a.a.R.d.T. definieren, was nach dem Stand von Wissenschaft, Technik und praktischer Erfahrung als bewährte Lösung gilt. Sie bilden den Mindeststandard, den ein ordnungsgemäß arbeitender Architekt oder Ingenieur schuldet. Maßgeblich ist stets der Stand zum Zeitpunkt der Abnahme des Bauwerks (§ 633 Abs. 2 BGB).
Ein Verstoß gegen die a.a.R.d.T. begründet einen Mangel, selbst wenn das Bauwerk objektiv funktioniert.
Es genügt also nicht, dass ein Bauwerk „brauchbar“ ist – es muss auch regelgerecht sein.
Problematisch wird es, wenn neue Materialien, unkonventionelle Bauweisen oder kostensparende Lösungen zur Anwendung kommen, die (noch) nicht den a.a.R.d.T. entsprechen. In solchen Fällen ist besondere Vorsicht geboten – denn schon die bewusste Abweichung kann rechtlich zur Haftung führen.
Neuere Rechtsprechung: Verschärfte Anforderungen an Abweichungen
Zwei aktuellere Entscheidungen aus den Jahren 2024 und 2025 haben die Maßstäbe für zulässige Abweichungen von den a.a.R.d.T. noch weiter konkretisiert und verschärft.
Die Obergerichte nehmen zunehmend klarer Stellung, indem deutlich ausgeurteilt wird, dass eine bewusste Abweichung von den a.a.R.d.T. grundsätzlich mangelhaft ist, unabhängig davon, ob sich ein Schaden realisiert hat oder nicht. Wörtlich wurde seitens des urteilenden Senats noch einmal bestätigt:
„Der Architekt schuldet eine Planung, die den anerkannten Regeln der Technik entspricht. Dabei liegt der Mangel bereits in der Abweichung von der anerkannten Regel der Technik, der Eintritt eines Schadens ist nicht erforderlich“.
Die alleinige Zustimmung des Bauherrn genügt nicht, um eine solche Abweichung zu legitimieren.
Der Planer muss nachweisen, dass:
- alle Risiken, Alternativen und Folgen der Abweichung vollständig, klar und verständlich dargestellt wurden, dem Bauherrn also die Bedeutung und Tragweite der Abweichung/Fehlerhaftigkeit bewusst ist,
- eine ausdrückliche Zustimmung des Bauherrn erfolgt ist,
- die Dokumentation vollständig geführt und mindestens zehn Jahre aufbewahrt wird.
Fehlt auch nur ein Bestandteil dieser Dokumentation, droht eine volle Haftung des Planers – selbst ohne konkreten Funktionsmangel. Besonders schwer wiegt, dass im Streitfall der Planer die Beweislast für eine ordnungsgemäße Aufklärung trägt.
Die Berufshaftpflichtversicherung: Schutz ja, aber mit klaren Grenzen
Die Berufshaftpflicht ist die zentrale Absicherung für Architekten und Ingenieure. Sie sichert sie gegen finanzielle Folgen von Fehlern im Beruf ab – doch nicht uneingeschränkt.
Typische Ausschlusskonstellationen:
Pflichtwidrigkeitsklauseln in den Versicherungsbedingungen schließen oftmals Schäden aus, die aus vorsätzlichem oder wissentlich pflichtwidrigem Verhalten resultieren.
Wer also bewusst von den a.a.R.d.T. abweicht und dabei Risiken erkennt, aber nicht ausreichend dokumentiert, handelt möglicherweise nicht mehr fahrlässig, sondern vorsätzlich pflichtwidrig – mit der Folge des Versicherungsausschlusses.
Der Versicherer muss in solchen Fällen somit nicht zahlen, wenn er nachweisen kann, dass dem Planer die Pflichtverletzung bewusst war – oder dies nahe liegt.
Besonders heikel: Abweichungen auf Wunsch des Bauherrn können zum Risiko werden, wenn keine ausreichende schriftliche Dokumentation erfolgt. Mehrere Schadensfälle zeigen, dass gerade die Nachlässigkeit im Aufklärungs- und Dokumentationsprozess im Ernstfall teuer wird – teilweise mit persönlichen Haftungsfolgen.
Praxistipps zur Haftungsvermeidung und Absicherung
Um Abweichungen von den a.a.R.d.T. rechtssicher zu gestalten und den Versicherungsschutz aufrecht zu halten, sollten Architekten und Ingenieure folgende Grundsätze beachten:
Transparente Dokumentation
Jede geplante Abweichung sollte vollständig schriftlich dokumentiert werden – einschließlich:
- Technischer Beschreibung der Abweichung
- Vergleich zu den a.a.R.d.T.
- Darstellung von Risiken und Alternativen
- Begründung für die gewählte Lösung
Lassen Sie sich die Einwilligung des Bauherrn schriftlich bestätigen – idealerweise in einem gesonderten Aufklärungsdokument mit Gegenzeichnung.
Versicherer frühzeitig einbeziehen
Informieren Sie Ihren Versicherer vor Umsetzung der Abweichung.
Klären Sie, ob die Maßnahme vom Versicherungsschutz gedeckt ist.
Fordern Sie im Zweifel eine schriftliche Deckungsbestätigung für das konkrete Projekt.
Langfristige Dokumentationspflicht beachten
Bewahren Sie alle relevanten Unterlagen – insbesondere Beratungsprotokolle, Schriftverkehr, Zustimmungen – mindestens zehn Jahre nach Abnahme auf.
Kommunikation mit Auftraggebern stärken
Klären Sie Ihre Bauherren frühzeitig über die Tragweite von Regelabweichungen auf.
Nutzen Sie klare, nicht-technische Sprache.
Weisen Sie auf das Haftungs- und Versicherungsrisiko hin, falls keine Dokumentation erfolgt.
Vorausschauende Vertragsgestaltung
Neben der technischen und dokumentarischen Umsetzung spielt die Vertragsgestaltung eine zentrale Rolle. Folgende Punkte sind empfehlenswert:
- Vertragliche Aufnahme der Dokumentationserfordernisse: Im Vertrag sollte festgeschrieben sein, dass Abweichungen schriftlich und mit ausdrücklicher Zustimmung der Bauherrschaft erfolgen.
- Qualifizierte Änderungsvereinbarungen: Bei Anforderungen an die Abweichung müssen Honoraranpassungen, Mehrkosten und Haftungsfolgen vertraglich klar geregelt werden.
- Haftungsbegrenzungsklauseln für experimentelle Lösungen: Wo möglich, sollte die Haftung für technische Innovationen und nicht anerkannte Lösungen vertraglich beschränkt werden, beispielsweise mit klaren Ausschlussfristen oder Entlastungsklauseln.
- Regelungen zu Aufklärungspflichten: Deutliche Hervorhebung der Aufklärung und Bestätigungspflicht im Vertrag erhöht die Schutzwirkung.
- Durch eine solche vorausschauende Vertragsgestaltung lässt sich das Haftungsrisiko deutlich reduzieren, Missverständnisse vermeiden und die Position bei späteren Streitigkeiten stärken.
Innovationsspielraum realistisch einschätzen
Jede Abweichung von den a.a.R.d.T. ist juristisches Neuland.
Lassen Sie sich nicht zu kurzfristigen Lösungen drängen, wenn die rechtliche und versicherungstechnische Absicherung fehlt.
Ziehen Sie im Zweifel juristischen Rat hinzu – auch schon in der Planungsphase.
Fazit: Innovation ja – aber mit Absicherung
Wer von den allgemein anerkannten Regeln der Technik abweichen will, bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen Innovation und Haftungsfalle. Die aktuellen Gerichtsurteile unterstreichen, dass Abweichungen nur unter strikter und vollständiger Aufklärung sowie Dokumentation zulässig sind.
Für Architekten und Ingenieure bedeutet dies: Wer innovativ plant, muss noch konsequenter als bisher dokumentieren und frühzeitig die Berufshaftpflicht einbinden. Nur so lässt sich das Haftungsrisiko beherrschen und der Versicherungsschutz sichern.
Planen mit Mut heißt auch: planvoll vorgehen und sicher dokumentieren.
Richard Geiss
Rechtsanwalt
Köln
Richard.geiss@rechtsanwalt-koenn.de