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Das bayerische Fensterrecht im Spannungsfeld Brandschutz
Anmerkungen zum OLG Nürnberg, Teilurt. v. 18.06.2024 – 6 U 2481/22 (nicht rechtskräftig)
Das „Fensterrecht“ als nachbarliches Schutzrecht
Normativer Ausgangspunkt: Art. 43 BayAGBGB – Schutz vor Einblicken
Art. 43 Abs. 1 S. 1 BayAGBGB ordnet an: Sind Fenster weniger als 0,60 m von der Grundstücksgrenze entfernt, auf der Gebäude stehen oder die als Hofraum/Hausgarten dient, müssen sie „auf Verlangen“ so eingerichtet werden, dass bis 1,80 m über dem dahinterliegenden Boden weder geöffnet noch durchgesehen werden kann. Lichtöffnungen stehen Fenstern gleich (Abs. 2). Der Normzweck ist klassisch nachbarrechtlich: Privatheit sichern, Einsicht verhindern, Konflikte minimieren.
Im Nürnberger Fall waren die Voraussetzungen eines solchen Anspruchs dem Grunde nach erfüllt (Grenzbebauung; Fensterfronten Richtung Nachbargrundstück). Gleichwohl scheiterte die Klage – wegen brandschutzrechtlicher Schranken und Treu und Glauben.
Brandschutz als Schranke: Art. 31 BayBauO und die zwingende Öffnungsfähigkeit von Rettungsfenstern/-türen
Art. 31 BayBauO verlangt für Nutzungseinheiten mit Aufenthaltsräumen zwei Rettungswege: Der erste über eine notwendige Treppe, der zweite entweder über eine weitere Treppe oder über eine mit Rettungsgeräten der Feuerwehr erreichbare Stelle (klassisch: anleiterbarer Balkon, Rettungsfenster). Im konkreten Fall hieß dies: Der Brandschutznachweis (29.11.2006) wies den zweiten Rettungsweg über den anleiterbaren Balkon nach; erreichbar allein über die Balkonfenstertür. Die Konsequenz war: Mindestens diese Öffnung darf nicht so gestaltet werden, „dass … ein Öffnen … nicht möglich ist“. Mit anderen Worten: Rettungsöffnung bleibt Rettungsöffnung – und muss daher auch zwingend öffenbar sein.
Das OLG wirft dem LG ausdrücklich vor, die brandschutzrechtliche Dimension in den Entscheidungsgründen übergangen zu haben, was im Endeffekt einen Rechtsfehler darstellt. Wer Art. 43 BayAGBGB durchsetzen will, kann nicht begehren, was brandschutzrechtlich unzulässig ist.
Wo kein Rettungsweg betroffen ist, kommen differenzierte Sichtschutzmaßnahmen in Betracht (z. B. Teilflächen, reversible Elemente). Wo ein Rettungsweg betroffen ist, bleiben nur Lösungen, die Öffnungsfähigkeit erhalten (z. B. transparente Rettungsöffnung kombiniert mit diskretem Sichtschutz über 1,80 m außerhalb des funktionsrelevanten Öffnungsbereichs oder mit seitlichen Abschirmungen). Diese Denkrichtung spiegelt die Dogmatik des OLG plausibel wider.
Sichtschutzanspruch trifft auf Rettungsweg
Das OLG hebt die erstinstanzliche Verurteilung auf, weil das LG die brandschutzrechtliche Lage nicht geprüft hatte. Sobald der zweite Rettungsweg nur über die streitige Balkontür möglich ist, kann die Anordnung „Öffnen unmöglich machen“ nicht begehrt werden. Für die Untergeschossfenster verneint der Senat einen solchen Anspruch zusätzlich nach Treu und Glauben: Schlechte Lüftungsmöglichkeiten und festgestellte Feuchteschäden schließen ein dauerhaftes „geschlossen halten“ bzw. eine milchglasartige Belegung aus.
Fazit
Das Fensterrecht bleibt ein starkes Instrument des Sichtschutzes an der nachbarlichen Grundstücksgrenze. Aber es endet dort, wo Rettungswege beginnen – und es beugt sich, wo seine Durchsetzung zur faktischen Verdunkelung und unzumutbaren Beeinträchtigung der Wohnnutzung führt. Die Linie des OLG Nürnberg ist klar: Brandschutz geht vor; Treu und Glauben verhindert übertriebene Inanspruchnahmen.
Dr. Till Fischer
Rechtsanwalt, Salary Partner
Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht
Fachplaner für vorbeugenden Brandschutz
Berlin
Till.Fischer@leinemann-partner.de